AN-GE(H)-KOMMEN
Ankommen? - Wann? Wo? Wie? - „Auf dem Weg zu mir selbst“ - „Ich stehe neben mir“ – „Ich musste erst mal zu mir selbst finden“…
Da kennt unsere Sprache den „Lebensweg“ und doch lässt sich dieser Weg nur im Rückblick beschreiben. Der Blick voraus bildet einen Weg gebaut aus Wünschen, Ideen und Träumen.
Doch dieser Lebensweg kennt besonders in den ersten Jahren immer wieder Einflussnahmen von Menschen, die „es“ nach deren Bekunden doch nur gut mit mir und Dir meinen.
Da schaue ich auf meinen Lebensweg, der 1949 beginnen durfte. Und bei diesem Start gab bereits einen ersten Eingriff in mein Leben. Schon vor der Geburt muss es für die Eltern wohl Informationen gegeben haben, dass mit dem zu erwartenden Kind „etwas nicht stimmen“ wird. Um die sich daraus ergebenden Tatsachen wird Zeit ihres Lebens ein Geheimnis gemacht. Nach dem Motto: Was wir verschweigen kann es auch nicht geben! Aus dem nicht eindeutigen erkennbaren Geschlecht wird kurzer Hand etwas gebastelt, das den Tatbestand „männlich“ erfüllt. Der von den Eltern schon vor meiner Geburt ausgewählte Name vermittelt den allermeisten Menschen auch heute noch nicht „ein Junge“, sondern verwirrte von Anfang an. Im Standesamt bestand man amtlich auf einen zweiten „eindeutigen“ Vornamen; doch dieser verwirrte später noch mehr, als dass er zur Eindeutigkeit beitrug. Und das Kind kommt außerdem einfach nicht in dieser vorgeschriebenen Rolle an. Immer wieder wird es ermahnt, endlich ein richtiger Junge zu werden – als 5jähriges Kind. Erwehrt es sich dieses Verlangens, setzt es schlagende Argumente. - Dann die übergriffigen „Untersuchungen“ beim 9Jährigen seitens der Mutter, ob ich „nicht doch ein Zwitter“ sei. Was das sein könnte, erfuhr ich auf Rückfrage von ihr gar nie. Es muss den Eltern wie Menetekel vor Augen gewesen sein. Ich spürte nur deutlichst, dass ich wohl nicht ihren Vorstellungen entspreche, ich bin neidisch auf die Dinge, die meine Schwestern als Kleidung tragen dürfen, es ist nicht so hart und kantig (z.B. Lederhosen! Grrr).
In den ersten sieben Schuljahren sind es nur Jungs in meiner Klasse. Und ich passte scheinbar nicht zu ihnen. Dann ein anderer Wohnort und dort eine gemischt-geschlechtliche Klasse… Ich durfte zum ersten Mal einfach nur ICH sein. - Mit 17 Jahren die Einladung zur Musterung, denn ich hatte nun amtlich festgelegt ein „Mann“ zu sein. Doch erst wird bei der „Erfassung“ nach längerem Suchen meine Bürgerkarte im Rathaus in der Abteilung „Frauen“ gefunden und dann bei der Musterung „fehlte“ die Akte komplett, weil 1969 keine Frauen als Soldaten vorgesehen waren. Von diesem Verein hörte ich nie wieder etwas. - Mir war und ist das durchaus recht so, denn ich will einen Beruf ergreifen, in dem es um die Hilfe für geschädigte Menschen geht. Der Widerspruch zum Gebrauch der Waffe kommt für mich bis heute nicht in der Logik auf einen Nenner. - Auf dem Weg zum Beruf lasse ich mich vom Roten Kreuz in vier Wochen zusammen mit 41 Frauen zur „Krankenschwesternhelferin“ befähigen und erhalte einen entsprechenden Lichtbild-Ausweis und mit DRK-Siegel.
Wie oft werde ich schon bis dahin angesprochen, „Warum hast Du einen Frauennamen“ oder Kolleginnen bemerkten nachdenkend, „warum bist Du eigentlich keine Frau?“ - und das nicht nur wegen des Namens. Ich suche nach Erklärungen, denn ich kann mit der Rolle „Mann“ wirklich nichts anfangen, aber ich will auch nicht „Frau“ sein. Das verstehe jemand, es gelang ja nicht mal mir. - Da ist nach manchen solchen Fragen das Bild vom Zauberring: einmal würde ich gerne für zwei-drei Tage Frau sein, um eine Ahnung zu bekommen, wie ist es wirklich ist, als Frau in dieser Welt diese Welt zu erleben. Aber bitte ich müsste vor dem Drehen des Ringes wissen, dass ich auch wieder zu mir zurück gelange – zu meinem Ich. Die Rolle „Mann“ finde ich auch heute für mich als absolut unpassend. Aber wie nennt sich nun mein Status? - Ein Internet gab es noch nicht, die Literatur war schwer durchschaubar und half auch eher gar nicht; zwei von mir befragte Ärzte verstehen nicht einmal meine Fragen. - „Ich lebe zwischen den Stühlen“ sage ich. Und als mir der griechische Begriff „Androgyn“ begegnete, bin ich nahezu erleichtert, es gibt nun auch einen passenden Schuhkarton, in den ich mich einordne kann; und es gibt Menschen wie mich schon in früheren Zeiten, sie waren anerkannt, und doch nichts außergewöhnliches. Bin ich heute allein in diesem Karton? - Und dann kommt das Jahr 1995 – ich programmiere mir eine Internetseite, heute sagen die Kenner „Blog“ dazu, stelle mich vor, meine Wahrnehmungen, mein gesammeltes Wissen, mein Nachdenken. Plötzlich melden sich andere. Es gibt Kontakte im deutschsprachigen Raum. - Und dann empfiehlt mir eine langjährig gute Bekannte ein Kleidungsstück aus der Abteilung „Damen“ mit den Worten: Mir passt es leider nicht, Dir dürfte es auf Anhieb passen. Und es passt genauso gut zu Dir. Du solltest dich überhaupt viel femininer kleiden, das passt viel besser zu Deinem gesamten Typ. - Werde doch mal Du-selbst!“
Eine echte Hürde, denn was heißt das? Müsste ich bei der Wahl der Kleidung die Fronten wechseln? Es wird ein Weg in kleinen Schritten, das Ziel war mir gar nicht klar; gab es überhaupt ein Ziel? Die grobe Wegbeschreibung kam mir entgegen, und Schritt für Schritt musste ich erkennen, neben mir öffneten sich ganz neue Welten, besonders im Umfeld des Berufes, ich fühlte mich freier, nicht mehr in einer Zwangsjacke. Macht so etwas die Kleidung? - nein? - ja? - keine Antwort passte. Mich engte viel zu lange schlicht der Verzicht ein; ich hatte dem amtlichen Rollenbild zu entsprechen „müssen“, und fühlen mich doch wie eine Vogelscheuche. Mein Weg war so behutsam, dass er für niemanden zum erkennbaren Thema wurde.
Dass genau zur selben Zeit auch noch mein Körper ungefragt und ungehindert sein Programm deutlich auf optisch weiblich beschleunigte, passte zwar als Wegmarkierung, und damit war ich angekommen – ohne es selbst zunächst zu erkennen, – angekommen bei meinem Ich.
Erstaunlich bleibt für mich, wie dennoch auch heute noch Wissende der Medizin solange unendlich brauchen, nicht in jedem Anders-Sein eine Störung zu sehen. Warum eigentlich nicht erst einmal das zum Individuum Gehörende wahrnehmen, akzeptieren. - Wie bekannte vor gar nicht langer Zeit ein Arzt, als ich ihm erklärte, dass ich zu den intergeschlechtlichen Menschen zähle, „Ja, das ist ein schwieriges Thema!“ - aber bitte sehr nicht für mich, Herr Doktor!
Mir ist sehr gut bekannt, wie schwer es viel zu viele andere Mitmenschen mit ihrem ureigenen Geschlechterkonflikt haben. Aus der eigenen Perspektive sage ich denen: „Macht Euch bitte Schritt für Schritt auf den Weg, den Ihr vor Euch seht, damit ihr bei Euch ankommen könnt und bitte findet Menschen, die Euch Begleitende – zum Beispiel in einer Selbsthilfegruppe.
Es tut so gut, endlich anzukommen und mit dem eigenen ICH der Welt frei und unbefangen zu begegnen.
(mehr siehe bei ANDROGYN)
Christel
Prüßner
Veröffentlich Sommer 2022