Wir sind im Umgang miteinander erstaunlich unwahrhaftig.
Im ZDF gibt es seit 1967 die Fernsehsendung „Aktenzeichen XY“ und die Macher:innen gehen davon aus, dass es irgendwann in unseren Häusern Menschen gibt, die sich durch bestimmte Stichworte, Bilder usw an ein konkretes Ereignis, an eine Person, oder komplette Szenarien erinnern. – Und es gibt immer wieder dieses Erinnern. – 1954 gab es erstmals am 17.Juni den gesetzlich geschützten, arbeitsfreien Feiertag „Tag der deutschen Einheit“, der erst 1990 durch den 3.Oktober abgelöst wurde. – Ich erinnere mich an einen kleinen „Tagesschau“-Ausschnitt etwa um 1964, dass Reporter auf einem stark frequentierten Marktplatz die dort angetroffenen Menschen befragte, warum „morgen ein arbeitsfreier Tag“ sei. Nahezu keiner der Befragten hatte eine Ahnung; doch alle freuten sich. Schon nach zehn Jahren war das Erinnern dahin. – Gestern gratulierte ich einem mit mir befreundeten Ehepaar zu seinem 40ten Hochzeitstag. Das Paar, aber auch die Familie hatten in all den Jahren noch nie eine „öffentliche“ Aktion daraus gemacht, und so kennt dieses Datum eigentlich nur der engste Familien-Clan. – „Woher kennst Du das Datum?!“ Und ich konnte ehrlich gestehen: „Nein, in Erinnerung habe ich es nicht!“ Doch vor 15 Jahren freute sich das Ehepaar, dass sie aus Anlass der Silberhochzeit eine USA-Reise geschenkt bekommen hatten und das erzählen sie mir damals. „Wann hattet Ihr denn Euren Ehrentag?!“ – „am vergangenen Mittwoch!“ Und das notierte ich mir in unserer persönlichen Agenda*. – Dieses Buch mit seinen knapp 200 Seiten ist – wie sich denken lässt - inzwischen ein kleiner Gedächtnis-Schatz.
Wie speichern als Erinnerung andere Menschen konkrete Ereignisse? – Fragen wir uns jede:r selbst!
Ich kann mich sehr plastisch wie in einem Film an einen Unglücksfall erinnern, der mit einem verzögerten Todesfalls zu einer juristischen Kompliziertheit wurde. – Mitten aus (tatsächlich!) heiterem Himmel, keine Wolke, kein Wind, bricht oberhalb des Hauptstammes ein Baum und fällt mit seinem gesamten Geäst in eine Festversammlung. Erstes Bekenntnis von mir: Ich kann den Anlass für das Fest benennen, die Umstände vorher und hinterher und ich kann einen Zeitlupen-Film in mir ablaufen lassen, der das Geschehen immer wieder gleich zeigt. Selbst mit Wochentag und Uhrzeit dürfte ich sehr genau liegen. – Nur beim Datum versagt mein Erinnern. – Damals kam es ganz schnell zu einer staatsanwaltschaftlichen Untersuchung. Es stellten sich in der Vorgeschichte Undeutlichkeiten heraus. Wer war für den Baum, seine Pflege und seine Verkehrssicherheit zuständig? – Der Kreis der juristisch Verantwortlichen beschränkte sich schließlich auf den örtlichen Verbandsvorstand. Das Protokollbuch wurde beschlagnahmt, Rechnungen eines Baumpflegers hinterfragt und gewichtet. – Das Protokoll wies aus, dass man eine Begutachtung von der einen Dienststelle einholen wollte – doch es gab keine Notizen zu einem Telefonat, was, wann, wer.
Schließlich wurde juristisch klar, dass der Verbandsvorsitzende das Allermeiste in gutem Vertrauen und mit extrem wenigen Notizen veranlasst und ohne Rückkontrolle veranlasst hatte. – ABER erinnern konnte sich keiner in Wirklichkeit bei diesen Umständen - an nichts Konkretes.
In meiner privaten Bibliothek stehen einige Kladden aus den Berufsjahren, in denen Projekte, Besprechungsergebnisse, Gedankenaufrisse, Skizzen, usw. mit den Namen der Beteiligten oder Anzusprechenden, ja auch die Kalenderdaten. Schaue ich in diese Kladden, dann staune ich jedes Mal wieder von Neuem über das große Vergessen. Ich lese da von Ereignissen, an die ich so gar keine Erinnerung habe, selbst die Notizen helfen mir nicht weiter, da sind Namen genannt, zu denen mir die Gesichter fehlen.
Und wie steht es um Dein Gedächtnis?
Für eine reguläre Amtszeit war ich Hauptschöffe bei einem Amtsgericht und durfte einmal im Monat einen Tag lang über das Erinnern einzelner Menschen staunen; wenn es erstaunlich präzise oder gar erbärmlich dürftig daher kam. Und das sollte nun das Gericht bewerten, einschätzen.
Mich ärgert es darum, dass es in der Politik so wunderbar unwahrhaftig zugeht, wenn einzelne Personen vorgeben sich nicht erinnern zu können. 2024/2025 gab es nun eine Episode bei der sich das Erinnern und Vergessen geradezu in einer Polonaise durch die Wochen und Monate zog. Und besonders ärgerlich wurde es durch die absurde Häme der polarisierenden Medien.
Mit meiner Einrede spreche ich nur das Thema Erinnern und Vergessen an, nicht die zur Diskussion stehenden kriminellen Machenschaften der Großkopferten.
Das Leben eines jeden Menschen unter uns, und damit das Überleben einer großen Gemeinschaft, lebt im Vertrauen darauf, dass Menschen den jeweils anderen nicht in seiner Existenz bedrücken, bedrohen oder gefährden. Und wenn dies dennoch geschieht, dann haben handfeste Beweise für den Tat-Umstand eine Rolle zu spielen. Mein Erinnern und Dein Vergessen können den Weg dahin vielleicht ebnen oder behindern. – Denn welchen anderen Wert kann mein Erinnern für Dich haben? Es ist wie der dicke Stein auf der großen grünen Wiese. Doch keiner kann Dir sagen, ob dieser Stein noch an seinem vorgesehenen Platz liegt und ob er nicht bei der letzten Maht verdreht wurde - und Dich nun in die Irre weist.
Ganz abgesehen davon: Erinnern kann auch eine Last sein. Und wenn ich solch eine Erinnerung mit Dir teilen möchte, muss ich leider darauf gefasst sein, dass Du mir von diesem Erinnern nichts abnimmst. – Weil Dir meine Erinnerungen nicht gefallen, nicht glaubwürdig erscheinen,…
DENK MAL NACH!
Erinnern ist nicht wirklich verlässlich – Erinnern ist eine der Bohlen auf der Brücke von Dahinten nach Hier und weiter bis Dort. Eine morsche Bohle kann den Weg zurück gefährden, wenn die Schadstelle zu breit und lang ist - eine schmale Bohle kann noch umgangen werden.
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* = Agenda – ein immerwährender Kalender für jeden Tag eine Seite und so wurde dieses Ereignis, wie der Geburtstag einzelner Personen, oder eine besondere Reise, oder an dem betreffenden Tag eingetragen (dazu die Jahreszahl). -
Sammlung "Geh Danken" - (C) Christel Pruessner, Dersenow 2013