Meinungsfreiheit
“Du darfst in der DDR Deine Meinung sagen, Du wirst schon sehen, was dann passiert.
Du darfst auch in der BRD Deine Meinung sagen. Du wirst sehen, es passiert trotzdem nichts.”
Die Freiheit der Meinung sehe ich nach 75 Lebensjahren aus sehr verschiedenen Erlebnisebenen. Dabei reflektiere ich sie eher gar nicht über einen Grundgesetzartikel. Sondern es sind für mich die Resonanzen, die sich verinnerlichten, und die sich darum auch zu inneren Freiheits-Marken ausbildeten. - Meinungen lassen sich in Fragen, wie auch in Antworten, aber auch in aufwendigen Aufsätzen zum Ausdruck bringen. Auch wenn das von mir erstellte und vielleicht verarbeitete Foto nur ein Abbild zu sein scheint, so ist es doch genauso wie das Bühnenstück, oder das Lied der singenden Zunft eine Form der Meinungsäußerung, dem aus meiner Sicht der Freiheitsgrundsatz gilt.
Da war im Alter von fünf Jahren meine Frage an die Eltern, warum MUSS ich unbedingt ein Junge sein. Denn ich wurde offenbar beständige kritisiert und ermahnt, endlich ein richtiger Junge zu sein. Und so setzte es für diese Frage einen bis heute eingebrannten Schlag mit der Hand ins Gesicht. So lernte ich früh, dass es nicht einmal erlaubt ist, Fragen zu stellen.
Da war dann im Alter von dreizehn Jahren das Attest des Facharztes, dass ich auf keinen Fall an den üblichen sportlichen Aktionen des Schulbetriebes teilnehmen dürfte, weil ich mir damit erhebliche Schäden zuziehen würde. Die Meinungsäußerung dieses Arztes wurde vom Sportlehrer nicht akzeptiert und als Simulant hingestellt, und im Zeugnis tauchte bei “Sport” eine FÜNF auf. Das Grundgesetz interessiert da scheinbar weder den Schulleiter noch die Eltern. Ich lernte, es gibt eine Meinungshoheit, bei der meine Meinung nicht einmal erfragt wird.
Da war dann in den 1970er Jahren der Radikalenerlass. Unter Androhung der Entlassung aus meinem Dienstverhältnis wurde auch mir ein Papier zur Unterschrift vorgelegt, mit dem ich meine politische Mäßigung erklärte. Das heißt, wenn mir mein selbst erarbeitetes täglich Brot lieb sein wollte, hielt ich besser meinen Mund, denn wer bewertet meine Meinung wann. Die Zensur im eigenen Kopf sollte funktionieren.
Da war 1977 der Arbeitgeber eines kleinen konfessionellen Krankenhauses, der entließ meine Partnerin, die aufgrund einer stark infektiösen Erkrankung einen Arzt von der anderen Konfession aufsuchte. - Dass hier gleich mehrere Artikel des GG berührt wurden, wollte keiner der Verantwortungs- und Entscheidungsträger wissen. Im Gegenteil: Mein Vorgesetzter wurde gerüffelt, dass er mich wohl nicht richtig im Griff habe, nachdem ich das Geschehen einer Wochenzeitung als Bericht übermittelt hatte. Damals funktioniert Recherche noch, nur die Veröffentlichung wurde aus Gründen des gegenseitigen Respekts unterlassen.
Da war 1986 der erste mehrtägige Besuch in der DDR und der Gastgeber zeigte mir seine Heimat, wir kehrten in ein Gasthaus ein, es war gut besucht… und mitten im gemeinsamen Plausch ermahnte mich mein Gastgeber, bitte viel leiser zu sprechen, und verbunden mit einer kleinen Kopfbewegung ergänzte er, “Hier sitzen zwei aufmerksame Zuhörer von der Firma!” - Erst bei der Weiterfahrt mit seinem Wagen erfuhr ich, dass mit “Firma” nicht sein Arbeitgeber gemeint war, sondern die eifrigen Helfern von “Horch & Guck”.
Die Meinungsfreiheit ist nicht in Gefahr, sie wird aber immer wieder und immer stärker missbraucht und beschnitten. Wenn meine Wahrnehmung mich nicht täuscht, dann haben an diesem Missbrauch “die” Print- und Funk-Medien einen nicht geringen Anteil der Verantwortung auf sich zu nehmen.
Wenn noch vor dreißig Jahren in einer Lokalredaktion, in meiner wirklich zufälligen Gegenwart ein Volontär von der Chefin “zusammengefaltet” wurde mit den Worten “Recherche, Recherche und nochmals Recherche!” So kann ich als Leser derselben Tageszeitungen, wie auch in vielen, vielen anderen Printausgaben beim blanken Lesen der Berichte und Meldungen erkennen: Schlampig berichtet, die Finger wussten nicht mal von was sie da schreiben, Sätze brechen mitten im Satz ab, neue Wortschöpfungen oder Entlehnungen aus der Umgangssprache werden hilfsweise genutzt um weitere Erklärungen sparen zu können. Inzwischen sind ganze Pressemitteilungen aus Firmen als solche erkennbar, weil versäumt wurde, den Text dem Rahmen anzupassen.
Das Ergebnis sind Meldungen, die verwirren, die als Produktwerbung erkennbar sind, die eine Distanz-Wahrung vermissen lassen. - Im Radio bestehen bei immer mehr “Programmen” die Nachrichten aus einem Satz, der einen Bericht ersetzen soll und in seiner Verkürzung zu Fehl- und Falschinformationen führt.
Ganz gruselig sind m.E. im Fernsehn die unsäglichen und unsäglichen vielen “Talk”-Sendungen in denen auf der einen Seite immer wieder ALL-WISSENDE Prominenz ans Microphon gezerrt wird, die heute etwas zur Atomkraft und morgen zur Babynahrung sagen können, und schon Übermorgen zur ähnlichen Thematik absolut das Gegenteil vertreten. Da reicht eine falsch formulierte Frage und schon kommt erster noch leichter Stress in die Runde… Diese Gespräche sind eine Ansammlung von Meinung und über ihnen liegen die Panzerglasglocken der Freiheit. - Solche Gespräche führen wir an den Wohnhäusern, an der Arbeitsplätzen und in den Vereinen auch. Doch wir haben nicht den Anspruch, damit einen Staat im gesunden Fluss zu halten. - Doch bei zwei oder zwanzig Zuschauenden am TV-Gerät baut sich ein Block auf, der das Gehörte (und gesehene) durch Weitererzählen multipliziert, sogar verstärkt und ungewollt verändert und damit verfälscht. - jetzt entstehen Meinungen im absolut pluralen Sinne.
Ich muss an Wolfgang Gruner denken, als “Chauffeur von Rainer Bartels Dienstwagen”, und als sie dann zum Parteitag der CDU in Hannover (etwa 1965??) auf die Stadthalle zufuhren. Er sah das Motto der Versammlung draußen über dem Eingang gut lesbar: “Wir gestalten die Zukunft!” und er bei sich wahrnehm, dass er das als Drohung aufnahm.
Unsere deutsche Sprache ist wahrlich nicht leicht; doch der professionelle Umgang damit lässt gar nicht mehr selten Feingefühl und ein Gespür für das Glatteis vermissen. - - Ich komme beruflich aus der pädagogischen Arbeit Jugendlichen und Erwachsenen. In diesem Feld erlebte ich in den letzten Jahren auf der einen Seite eine erstaunlich wachsende Bereitschaft, sich mit seiner Meinung in die Mitte zu stellen. Aber es fiel auch auf, wie gering fundiert im Kleinen wie im Großen diese sogenannte Meinung eine eigene war und ist. Noch in den 1990ern wurden die BILD und “das Fernsehn” als Zeugen bemüht, und doch nur die “Meinung” von dort übernommen. Heute ist es "Ich habe gehört!” oder “Neulich im Internet habe ich…”
Als mein “bürgerliches Engagement” findet man mich seit über zehn Jahren auf der Ortsebene, auf der Verbandsebene und auch Online neben anderem in der Selbsthilfe-Arbeit wieder (Krebs und Demenz).
Die Meinungsfreiheit erlebe ich da aus der ganz eigenen Perspektive.
“Die” Politik (Parteien) benutzt in ihren Sonntagsreden diese ehrenamtliche Arbeit als wehrloses Feigenblatt und lässt in ihren salbungsvollen Worten absolute Unkenntnis erkennen.
“Die” Medien kennen sich besser mit Fußball und Tennis aus und (sorry) berichten über die oft sehr aufwendige und umfängliche Arbeit derart oberflächlich, dass die vorgestellten Organisationen und ehrenamtlich Tätigen sich gar nicht wirklich wieder erkennen. Die dabei erkennbaren Widersprüche werden nicht einmal den Medienschaffenden bewusst.
Die Bevölkerung kennt Selbsthilfe bestenfalls aus dem Erzählen von Freunden oder Bekannten oder es bleibt bei dem Standard-Bild: “Kaffee-Trinken und Kekse”.
Allein aus diesem Konglomerat entstehen Meinungen, die sich verselbständigen.
Ich verfüge über ein zufälliges “Testbild”: “Selbsthilfegruppen mag ich nicht, die Leute kommen immer gleich mit einer Aktentasche voller Unterlagen und Berichten und wissen immer alles besser!” sagte mir bei einem Kongress ein leitender Facharzt; wir waren verabredet, innerhalb seines Fachverbandes in einen engeren Kontakt zu gelangen. Ihn befragt, welche SHGruppe er denn schon kennengelernt habe, bekannte ernsthaft: “Keine!”
Meinungsfreiheit ist das eine - aber sie dann über Kameras und Microphone laut verbreiten zu dürfen, das ist ein gefährliches Unternehmen - und da fehlt “den” Medien leider immer mehr das Fingerspitzengefühl - Hauptsache Stimmung und Konfrontation.
Die Meinungsfreiheit beschneiden wir Menschen uns selbst. Wir haben nur nicht gelernt und eingeübt, die Meinung auch zu formulieren und zu fundieren. Selbst ein Farbenblinder kann die Signale einer Verkehrsampel dann erkennen, wenn dort drei Licht aufleuchten können. Das bedeutet, er muss seine Ein- und Ansicht schulen, immer wieder in einen Vergleich zu bislang Bekannten stellen. - Wenn mir irgendeine himmelblaue Alternative dieses Denken und lernen abnimmt, laufe ich Gefahr, aufgrund der fehlenden Übung zu verunglücken. Meinung kann und darf nicht statisch sein, sondern sie muss mit meinem Leben wachsen. - Frage an die Meinungsbildenden: Habt Ihr das im auch so im Blick? - - Ich musste(!) in der Schule lernen, dass der in Springe einst beheimatete Heinrich Göbel der Erfinder der Glühbirne sei. Dieses alte und verbreitete Wissen musste dann umgestoßen werden. Doch noch heute sind viele in der Stadt der festen Überzeugung, es seien die “Linken”, die dieses patriotische Wissen, mit großen Festen vor Ort gefeiert, vernichten wollen.
Ein letztes: Ich bin kein Verfechter von Parteiverboten, und ich mag es auch nicht, wenn ausgewählte Personengruppen nicht zu Wort kommen dürfen. Doch wir werden uns schnellstens daran machen müssen, mit der Meinung (-sfreiheit) verantwortungsbewusster und behutsamer umzugehen. Das ist sehr schwer (sagt meine eigene Erfahrung), muss aber dringend sein.
Dersenow am 12.Juni 2025
Christel Prüßner